Analyse von Tatbir (blutige Selbstgeißelung)
Eine der angeblichen Riten mancher Schiiten führt zu großem Schaden für die Umma. Da manche Gelehrte jenen Ritus befürworten, trauen sich nur wenige, eine sachliche Analyse zum Thema zu schreiben.
Der Zeitpunkt dieses Artikels ist ganz bewusst außerhalb jeglicher Zeit von Tatbir gewählt. Die Trauertage um das Martyrium der Heiligen Fatima (a.) sind vorbei, und bis Aschura ist noch lange. Als Tatbir wird in der Regel eine Art der Selbstgeißelung bezeichnet, die manche Schiiten insbesondere zu Aschura praktizieren und die im Extremfall mit dem bewussten Blutigschlagen des eigenen Körpers verbunden ist. Bei „einfacheren“ Versionen wird lediglich der nackte Oberkörper derart heftig geschlagen, dass die Spuren kaum zu übersehen sind.
Die Tatsache, dass eine der mächtigsten Werkzeuge der westlichen Propaganda namens „Wikipedia“ bei dem Stichwort Tatbir im Englischen ausschließlich die Ansichten der Befürworter (darunter sehr ausführlich die Ansicht der Schirazis), aber keine einzige Gegenstimme veröffentlicht, sollte den kritischen Muslim zumindest nachdenklich machen.
Biologische Aspekte
Der menschliche Körper ist eine wunderbare Schöpfung, die für sehr viele Problemfälle Lösungsmöglichkeiten parat hält, auch für Notfälle, damit der Körper überleben kann. In dem Moment, in dem der Körper einen Schmerz verspürt, reagiert er quasi automatisch mit Abwehrmaßnahmen, die abhängig sind von der Dauer und der Intensität des Schmerzes. Je länger der Schmerz andauert und je intensiver er ist, desto mehr Endorphine, also körpereigene Drogen, die eine ähnliche Wirkung haben wie Opium, werden ausgeschüttet. Der anfänglich vom Schmerz geplagte gerät in einen Art Rauschzustand, in dem er den Schmerz nicht mehr spürt. Genau das schildern alle von Tatbir faszinierten Teilnehmer eines solchen kollektiven Rauschs! Während man zweifelsohne die ersten Schnitte am Körper spürt, nimmt der Schmerz mit Fortsetzung der Schmerzzufuhr ab und der sich selbst Geißelnde gerät in einer Art Rauschzustand. Dieser Rauschzustand wird durch das kollektive Ereignis, dass alle drum herum ebenfalls in einen Rausch geraten, verstärkt. Kaum jemand käme auf die Idee, sich privat in einem einsamen Kämmerlein selbst zu geißeln. Dieser Rausch steigert sich mit der Zeit und führt zu sehr klaren Bewusstseinstrübungen. Menschen, die sich selbst Verletzungen zufügen und deren Narben der Verletzungen nicht zu übersehen sind, reden sich ein, dass es jene Narben gar nicht geben würde, was sie als „Wunder“ Imam Husains (a.) beschreiben usw. Der Rauschzustand ist derart „faszinierend“, dass der berauschte ihn immer wieder ersehnt. Er freut sich regelrecht auf die nächste Gelegenheit, in jenen Rausch zu geraten. Sein Wunsch zu Tatbir verlagert sich von der anfänglichen ausschließlichen Trauer um Imam Husain (a.) immer mehr in eine Art Freude und Befriedigung durch die Ausschüttung von Endorphinen, ein Zustand, wie ihn im Extremfall auch jeder Rauschgiftsüchtige kennt.
Gesundheitliche Aspekte
Selbst wenn es die Ausschüttung von Endorphinen nicht gäbe – was zur Schmerzabwehr dringend notwendig ist – hinterlassen die Wunden Spuren. Das hat zweifelsohne gesundheitliche Aspekte, die abhängig sind von der Intensität der Verletzung. Es gibt kein Vorbild der Nachahmung in der Schia, der eine vorsätzliche Selbstverletzung außerhalb von Tatbir befürwortet. Und auch im Rahmen von Tatbir betonen (fast) alle befürwortenden Gelehrten, dass kein Schaden für den Körper dabei entstehen darf. Allerdings kann derjenige, der sich im Endorphinrausch befindet, kaum mehr unterscheiden, wo der Schaden beginnt, was ohnehin schwer zu definieren ist.
Reinheitsaspekte
Blut (außerhalb des Körpers) gehört zu den elf ursächlichen Unreinheiten (ayn-un-nadschasa) im Islam. Es ist von sich aus unrein und führt dazu, dass derjenige, der eine Blutverunreinigung am Körper hat, nahezu alle heiligen gottesdienstlichen Handlungen nicht praktizieren kann bzw. darf. So kann derjenigen, dessen Kopf z.B. mit Blut überströmt ist, nicht rituell beten. Seine blutbeschmierten Hände dürfen den Heiligen Qur’an nicht berühren, es ist verpönt, dass er mit unreinen Kleidern in eine Moschee geht. Es ist nicht erlaubt, die Namen der Ahl-ul-Bait (a.) mit Blut zu besuhlen usw. Derjenige, der Blut am Körper, an den Kleidern bzw. auf der Haut trägt, ist religionsrechtlich in einem Zustand wie derjenige, der Urin und Kot am Körper, an den Kleidern bzw. auf der Haut trägt.
Wie ist Tatbir entstanden?
Die islamische Forschung gibt keinen klaren Hinweis darauf, wann und wie Tatbir eigentlich entstanden ist und ab wann es zu einem Massenphänomen wurde. Manche glauben, dass die Abbasiden diese Form der Selbstgeißelung gefördert haben nach dem Motto: Trauert heftigst, und schlagt euch blutig, aber lasst uns in Ruhe über Euch herrschen. In der geschichtlichen Betrachtung werden eine mögliche Selbstgeißelung von Imam Sadschad (a.) sowie eine vergleichbare Handlung von Zainab (a.), die in vielen Quellen belegt sein soll, angeführt. Allerdings können jene Gelehrte, die behaupten, derartige Überlieferungen wären authentisch, nichts Derartiges über die späteren Imame (a.) berichten. Insbesondere über Imam Sadiq (a.), der der einzige unter den späteren Imamen war, der zumindest zeitweilig während des Machtvakuums zwischen Umayyaden und Abbasiden frei lehren konnte, ist eine Selbstgeißelung nicht bekannt. Wenn die Selbstgeißelung eine derart lobenswerte Handlung sein soll, warum haben dann die späteren Imame (a.) es nicht ausdrücklich und unüberhörbar gelehrt? Warum haben sie sich selbst nicht blutig geschlagen?
Warum gibt es so viele befürwortende Gelehrte?
Der Islam ist die Religion der Wahrheit und nicht der Mehrheit. In einer Zeit, als die Mehrheit der Muslime in eine bestimmte Richtung gegangen ist, galt der Grundsatz, dass selbst wenn die gesamte Menschheit in eine bestimmte Richtung gehen würde und nur Imam Ali (a.) in eine andere Richtung geht, man sich Imam Ali (a.) anschließen sollte. Die Gelehrten, die die Handlung des Tatbir befürworten, gehen zum einen davon aus, dass besagte Überlieferungen über Imam Sadschad (a.) und Zainab (a.) authentisch sind und dass die Selbstgeißelung daher empfohlen sei. Allerdings fällt bei jenen Gelehrten auf, dass sie ab einem bestimmten Grand des Gelehrtentitels selbst nicht mehr zum Schwert greifen und sich selbst nicht mehr öffentlich blutig schlagen. Wenn die Handlung doch so extrem empfohlen ist, wie es einige behaupten, warum beginnen sie damit nicht bei sich selbst als gutes Vorbild? Doch selbst wenn man auch dafür eine Rechtfertigung finden sollte, so stellt sich die Frage, wie bei öffentlichen Fragestellungen, die die gesamte Umma betreffen, vorzugehen ist, wenn es sich widersprechende Meinungen unter Gelehrten gibt.
Tatbir in der Überlieferung
Die Hauptargumente der Tatbir-Befürworter aus Überlieferungen stützten sich auf zwei angebliche Ereignisse. In dem einen schlägt Imam Sadschad (a.) angeblich seinen Kopf derart heftig gegen die Wand, dass seine Stirn und seine Nase bluten. Bei dem anderen Ereignis reißt sich Zainab (a.) angeblich das Kopftuch vom Kopf in Verzweiflung über die Ereignisse. Ich bin der festen Überzeugung, dass beide Überlieferungen falsch bzw. übertriebene Darstellungen sind, die absolut nichts mit dem Charakter der Ahl-ul-Bait (a.) und der ihnen Nahestehenden zu tun haben. Aber interessant ist, dass kein Tatbir-Befürworter auf die Idee käme, seiner Frau zu erlauben, während der Aschura Prozessionen das Kopftuch vom Kopf zu reißen, da es eine verbotene Handlung wäre. Warum möchten manche Muslime so unbedingt glauben, das Zainab (a.) mit solch einer verbotenen Handlung ihres Bruders gedacht habe, jene Zainab (a.), die in ihrer Großartigkeit die Machthaber der Zeit niedergeredet hat und die von Aschura sagt, dass sie nichts als Schönheit gesehen hat! Jedenfalls haben Tatbir Befürworter und Tatbir-Gegner unterschiedliche Vorstellungen von Zainab (a.) und Imam Sadschad (a.).
Wie ist mit unterschiedlichen Meinungen der Gelehrten umzugehen?
Die islamischen Gelehrten der Schia kommen aufgrund von unterschiedlichen Analysen zu unterschiedlichen Ergebnissen in Detailfragen. Solange jene Detailfragen ausschließlich die Beziehung des Geschöpfes zu seinem Schöpfer betrifft (z.B. wie man betet oder fastet), hat es keine Auswirkung auf die Gemeinschaft und Öffentlichkeit. Sobald aber Fragen der Öffentlichkeit angesprochen sind, liegt eine Problematik vor, die über ein Jahrtausend hinweg einvernehmlich gelöst wurden. Doch in der heutigen Zeit sind manche Gelehrte nicht in der Lage die extrem schnellen Veränderungen der Zeit zu verstehen und auf die Umstände der Zeit vernünftig zu reagieren.
Über ein Jahrtausend war es so, dass es in jedem Dorf, in jeder Stadt, in jedem von den Menschen mit den Mitteln ihrer Zeit schnell erreichbaren Gebiet immer nur EINEN obersten Gelehrten gab. Wenn es jemals zwei konkurrierende Gelehrte in einer Stadt gab, dann nur, weil die unislamischen Machthaber den einen gegen den anderen ausspielen wollten. Unter den muslimischen Gelehrten war er Konsens, dass in einem Dorf nur ein Gelehrter der oberste Gelehrte sein konnte. Und so gab es keine Meinungsunterschiede bezüglich des Fastenbeginns, der Feste und der Riten. Sicherlich gab es Unterschiede zwischen den Dörfern, aber das war angesichts der nicht so schnell zu überbrückenden Entfernungen kein Problem. Jener höchste Dorfgelehrte hatte eine Reihe von Schüler. Oft wurde sein bester Schüler sein Nachfolger. Aber selbst wenn jener Schüler bereits einen derart hohen Rang im Islam gehabt hätte, dass er seinen Lehrer hätte zu Lebzeiten ersetzen können, hat er das nicht getan, sondern sich dem Urteil des Lehrers untergeordnet, weil die Einheit ein höheres Gut war. Das war auch zu Anfangszeiten von Imam Chomeini (q.) noch so. Als ihn alle Gelehrten der religiösen Anstalten aufgrund seiner enormen Kapazität dazu drängten, dass er die Mardschaiyya (Vorbild der Nachahmung) übernehmen solle, hat er das abgelehnt, bis sein Lehrer Ayatollah Borudscherdi dahingeschieden ist. Es kann und darf keine zwei „parallelen“ Anführer im Islam geben, das ist die Ansicht der Schia, weder bei einer Reise, noch bei einem Verein, noch bei einer Familie, noch bei einem Freitagsgebet usw. Stets MÜSSEN sich die Muslime auf eine (!) Person verständigen.
Das globalisierte Dorf
Die extremen Wandlungen der Zeit in den letzten wenigen Jahrzehnten haben die gesamte Welt zu einem Dorf gemacht. Eine Information, die wir heute in Deutschland veröffentlichen, kann innerhalb von Sekunden in Japan abgerufen werden und umgekehrt. In solch einer Zeit müssen sich die Muslime wiederum auf einen Imam verständigen. Mit Imam Chamene’i haben wir derzeit solch eine Persönlichkeit, die sowohl die Befähigung als auch die Position und Situation zur Führung der Schiiten in der Welt hat. Es entspricht der Natur der Sache, dass es Menschen gibt, die ihm diese Führungsposition streitig machen wollen. Sie merken dabei nicht, dass sie zu Handlangern der Feinde des Islam werden, obwohl sie das nicht beabsichtigen. Während manche Muslime diesbezüglich immer noch zweifeln, haben die „Imame des Kufr“, also die Anführer der Islamfeinde, keinen Zweifel daran und bekämpfen ihn mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, während sie seine Gegner unterstützen. Sie verbreiten mit allen ihren Medien die Ansichten seiner Gegner und lassen ihn kaum zu Wort kommen. Dabei gehen sie so weit, dass sie die blutige Selbstgeißelung „befürworten“ und die ablehnende Meinung Imam Chamene’is dazu verheimlichen.
Warum stellt sich Imam Chamene’i gegen Tatbir?
Aus Sicht eines jeden noch nicht religiösen Menschen, der selbst noch nicht in den Endorphinrausch der Selbstgeißelung geraten ist, ist die Handlung eine abscheuliche Handlung. Zwar gibt es vergleichbare Selbstgeißelungen auch in anderen Religionen (z.B. bestimmte Prozessionen unter Christen), doch die Menschen wenden sich zunehmend davon ab. Man stelle sich einmal vor, dass irgendein Prophet (a.) mit solch einer Handlung versucht hätte, die Menschen zur Wahrheit einzuladen. Wie erfolgreich hätte er sein können? Und das ist einer – von mehreren Gründen – warum Imam Chamene’i diese Handlung heute ablehnt. Es ist eine Handlung, die der Schia und damit dem Islam sicher schadet!
Als Muslime, die in einer mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft leben, müssen wir uns die Frage stellen, warum wir nicht erheblich mehr Erfolg damit haben, die Menschen zur Wahrheit einzuladen? Einer der Gründe dafür liegt in unserem Lebenswandel der – zweifelsohne – weit vom idealen Islam entfernt ist. Aber ein anderer Grund liegt darin, dass wir auf die natürlichen menschlichen Gefühle der Bevölkerung nicht eingehen. Wenn z.B. jenes Blutigschlagen also nach manchen Gelehrten empfohlen sein sollte, aber gleichzeitig allein der Anblick im Internetzeitalter zu einer extremen Verschreckung aller Islaminteressierten führt, sollte man nicht allein deshalb darauf verzichten? Schließlich ist es doch auch empfohlen auf die schönste Art die Menschen zur Wahrheit einzuladen, und kein Gelehrter verpflichtet die Schiiten zum Tatbir.
Die Liebe Gottes steht im Vordergrund
Bei jeder Handlung, die ein Muslim vollzieht, muss er sich immer wieder die Frage stellen: Bringt mich diese Handlung Gottes Liebe näher oder entfernt sie mich von Gottes Liebe? Bei individuellen Handlungen (z.B. Musik hören mit Kopfhörer) kann das Urteil von Gläubigen zu Gläubigen unterschiedlich sein und das hat jeder selbst zu verantworten. Bei kollektiven Handlungen ist auch die kollektive Wirkung zu berücksichtigen. So kann sogar eine unstrittig an sich empfohlene Handlung (z.B. lautes Verlesen des Gebetrufs in einem Stadtteil) unter bestimmten Umständen sogar verpönt (bei mehrheitlich nichtmuslimischer Bevölkerung) oder verboten sein (wenn z.B. der Gebetruf nur von einem Krankenhaus vernommen wird, in dem schwerstkranke Ruhebedürftige liegen). Wenn aber der Vorzug der Handlung zudem umstritten ist, warum sollte der Muslim dann in die Gefahr laufen, durch den Widerspruch zum zumindest möglichen Imam-ul-Umma bzw. großen Gelehrten zu geraten, während sein eigener Gelehrter es nur „empfiehlt“, der andere es aber verbietet?
Die wahre Liebe zu Imam Husain (a.) drückt man nicht dadurch aus, dass man sich selbst blutig schlägt, sondern in der uneingeschränkten Unterstützung des heutigen al-Husaini.
Nachsatz: Der Autor dieses Artikels ist weder ein islamischer Gelehrter noch beansprucht er für sich, die einzige Wahrheit dieser Erde wiederzugeben. Alles, was meine Wenigkeit schreibt, versuche ich nach bestem Wissen und Gewissen zu schreiben. Das gilt selbstverständlich für alle meine Artikel, selbst wenn ich es nicht jedes Mal hinzuschreibe! Und ich bin dankbar für jede konstruktive Kritik und Korrektur, und Allah weiß es am Besten.