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Wir müssen zurück zum Toilettenputzen

#1 von Yavuz Özoguz , 21.02.2014 12:08

Wir müssen zurück zum Toilettenputzen

Dr. Yavuz Özoguz

(der vorliegende Artikel ist aus der neusten Ausgabe von Muslim-Aktuell, wir bitten um Unterstützung des Zeitschriftenprojektes durch Abonnement:
http://www.eslamica.de/Literatur/Muslim-Aktuell/)


Angesichts der sich tagtäglich verschlimmernden Weltlage fühlen sich immer mehr Muslime berufen, die Welt eigenmächtig verbessern zu wollen, aber die Welt zu verbessern fängt in der eigenen Toilette an, auch das hatte Imam Chomeini (q.) gelehrt, aber viele wissen es nicht oder wollen es nicht wissen.

Die Weltlage lässt sich sehr treffend an wenigen Beispielen verdeutlichen. Weniger als 10% der Weltbevölkerung teilt sich mehr als 90% der Reichtümer. Nie zuvor gab so viel Armut, Hunger und Durst, nie zuvor so viele Hungertode. Nie zuvor (seit den Weltkriegen) gab es so viele Soldaten auf fremdem Boden, nie zuvor so viel Besatzung. Nie zuvor gab es so viel Vergewaltigung, Verstümmelung, Unterdrückung, Verachtung, Hass und Wahnsinn; nie zuvor so viele Selbstmorde und Abtreibungen. Nie zuvor gab es so viele Scheidungen und so viele zerstörte Familien. Nie zuvor gab es so hohe Finanzausgaben für Waffen. Nie zuvor war die Welt so sehr verschuldet wie jetzt; nie zuvor wurden so viele Zinsen gezahlt. Nie zuvor wurde die Umwelt derart massiv zerstört. Nie zuvor starben so viele Tierarten aus. Die Welt ist in einem wirklich erbärmlichen und dramatischen Zustand!

Alle jene Aspekte hätten wahrscheinlich auch unsere Vorfahren zu bestimmten Zeiten auflisten können. Verschärfend kommt aber heutzutage ein Aspekt hinzu, der die heutige Zeit, insbesondere in der Westlichen Welt, von den letzten Jahrzehnten deutlich unterscheidet: Nie zuvor waren so viele Intellektuelle, so lethargisch und hofergeben, nie zuvor war ein so großer Teil der Bevölkerung derart gelähmt und hilflos angesichts des Unheils. Obwohl die genannten Aspekte der absoluten Mehrheit der Bevölkerung bekannt sind, schaut sie tatenlos zu und wird dadurch mitverantwortlich für all das Unheil. Bestes und jüngstes Beispiel sind die geplanten Afrika-Einsätze der Bundeswehr. 70% der Bevölkerung sind dagegen, aber eine kriegslüsterne Schar von Journalisten treibt die US-hörige Regierung in eine Katastrophe und an keiner einzigen deutschen Universität gibt es ernsthaften Protest dagegen!

Aber wie es mit uns Muslimen? Immer mehr Muslime in der Welt – insbesondere in Asien – begehren auf. Sie wollen diese Weltlage nicht mehr hinnehmen und drücken dieses durch sehr unterschiedliche Aktionen aus, die nicht immer konstruktiv, manche sogar kontraproduktiv sind. Was aber ist zu tun?

Als Imam Chomeini einstmals im kurzzeitigen Exil in einem Pariser Vorort Hunderte von Studenten empfangen hatte, war es ein sehr regnerischer Tag! Die wenigen Toiletten waren außerhalb der Vortragsräumlichkeiten, und alle mussten durch den regnerischen Matsch, um auf die Toiletten zu kommen. Entsprechend sahen jene wenigen Örtlichkeiten dann auch aus. Als Imam Chomeini selbst auf Toilette ging, kam er lange Zeit nicht wieder heraus, und erste Gäste fingen an sich Sorgen zu machen, wo der damals auch nicht mehr so junge große Gelehrte des Islam blieb? Als er wieder herauskam waren seine Ärmel und Hosenbeine hochgekrempelt und die Toiletten blitzblank geputzt! Das war das „revolutionäre“ Vorbild Imam Chomeinis, welches die Welt bewegt hat, nicht das, was man in der Westlichen Welt über ihn schreibt! Das Toilettenbeispiel ist ein Beispiel, dass auch in Ghandis Leben eine bedeutsame Rolle hatte, dem Staatsgründer eines Landes, in dem das Gedenken an Imam Husain (a.) staatlicher Trauertag ist!

Die echten Anhänger Imam Chomeinis – nicht diejenigen, die das Wort „Dschihad“ missbrauchen – erzählen obige Geschichte immer wieder mit großer Verehrung und Hochachtung über diesen großen Gelehrten! Und genau das macht den entscheidenden Unterschied zwischen echten „fundamentalistischen Islamisten“ und denjenigen aus, die den Namen des Islam missbrauchen, um „gegen“ etwas zu agieren und nicht „für“ etwas.

Das historische Vorbild ist auch Hadschar, die Frau Abrahams. Obwohl ihr Vorbild ein Ritus der Pilgerfahrt [hadsch] ist, und obwohl jeder gebildete Muslim ihre Geschichte kennt, werden die Konsequenzen daraus viel zu selten im eigenen Leben umgesetzt: Hadschar war alleine in dem Tal Mekka zusammen mit ihrem nach Wasser dürstenden Sohn Ismael. In ihrer Verzweiflung eilte sie laufenden Schrittes sieben Mal zwischen den Hügeln Saffa und Marwa hin und her (Ismail saß dazwischen) um nach Wasser Ausschau zu halten. Aber sie fand nichts. Als Sie erschöpft zurück zu ihrem Sohn gekommen war, war vor seinem Fuß ein Brunnen entsprungen, der Brunnen Zamzam, der heute noch die Pilger mit Wasser versorgt! Die Lehre daraus ist: Wir müssen uns in dem Rahmen unserer Fähigkeiten und Möglichkeiten bis zur Erschöpfung bemühen, anstrengen („dschihad“ machen, was „anstrengen“ bedeutet), der Erfolg aber kommt niemals durch uns. Er ist von Gott.

Nie darf ein Mensch in die Arroganz verfallen zu glauben, er hätte etwas eigenständig bewirkt. Er durfte als Geschöpf Gottes dienlich sein. Und dafür gebührt Gott allein die Dankbarkeit. Aber Gott verlangt von niemandem mehr, als er verantworten kann. Kein Muslim der Welt hat heute die Verantwortung die gesamte Menschheit zu retten; rettet er aber ein einziges Leben, so ist es so, als hätte er die gesamte Menschheit gerettet.

Doch das retten des einen Lebens beginnt bei einem Selbst. Der praktizierende Muslim ist ein Idealist mit der steten Hoffnung, die Welt durch die Gnade Gottes zum Besseren führen zu können. Aber er muss Abstand von dem Irrglauben nehmen „er“ könnte die Menschheit führen. Er kann lediglich als „Diener Gottes“ Gott dienen. Und nicht der Mensch sondern Gott bestimmt, wo der Mensch ihm dienen kann. Gott benötigt keinen einzigen Menschen, um die Menschheit zu retten. Die Dienerschaft zu Gott ist eine Selbsterziehung und das Meistern der Prüfungen, die Gott uns auferlegt. Und nicht der Mensch bestimmt die Prüfung sondern Gott. Und so kann es auch eine Prüfung sein, für seine Gäste eine saubere Toilette bereitstellen zu wollen, selbst wenn man einer der mächtigsten Menschen der Welt ist. Es wäre doch ein leichtes für Imam Chomeini gewesen, irgendeinem der Bediensteten einen Hinweis zu geben! Aber wenn jene diesen offensichtlichen und von jedem Menschen behebbaren Misstand nicht selbst bemerken und nicht selbst beheben, dann tut er es eben als seine persönliche Prüfung! Niemand soll ihm dienen sondern alle dem großen IHM!

Wie aber ist die Lage um uns herum, um uns Muslime in Deutschland und Österreich herum? Wir diskutieren – allen voran der Muslim-Markt und Muslim-Aktuell selbst – nahezu tagtäglich über die Missstände in dieser Welt und die Verbrechen der westlichen Welt, die Verantwortung gegen das Unrecht aufzubegehren usw. usw., aber wie ist es mit den Toiletten vor unserer eigenen Tür? Haben wir die schon geputzt?

Wir leben hier in Deutschland und Österreich, und unser Umfeld ist die Nachbarschaft mit deutschsprachigen Nachbarn! Wie ist es mit dem Familienleben der Muslime? Ist es wirklich das Vorbild für die Menschheit? Wie viele Familien kennen wir, in denen alle möglichen unislamischen Aspekte das Familienleben vergiften oder gar zerstören? Was tun wir dagegen? Wollten wir wirklich behaupten, wir würden keine „Zwangsehe“ kennen? Sicherlich propagieren wir, dass die Zwangsehe im Islam ein Verbrechen ist, aber wie sah unser aktive Einsatz bisher gegen dieses Verbrechen aus? Wollten wir behaupten, wir wüssten nicht, dass die Frauenhäuser voll mit Muslimas sind? Wie vielen von denen haben wir wirklich geholfen? Wollten wir wirklich behaupten, wir kennen keinen Asylbetrüger, Muslime, die einen Missbrauch der Sozialsysteme betreiben?

Wie oft haben wir sie ermahnt, dass das Unrecht ist? Wie oft haben wir ihnen die entsprechenden Fatwas von z.B. Imam Chamane’i erläutert, in dem ein dazu befähigter muslimischer Mann verpflichtet ist, seine eigene Familie mit Halal-Arbeit zu versorgen, und Lügen, um Asyl zu erhalten, schlichtweg verboten ist! Haben wir ihm auch erklärt, dass er mit seinem Handeln insbesondere den Muslimen schadet, die wirklich die Unterstützung des Sozialsystems benötigen und wirklich Asyl benötigen?

Und wie ist es mit der Beschneidung der Frau? Kennen wir wirklich niemanden, der seine Tochter nach Indonesien oder ein Land in Afrika geschickt hat und als sie wieder kam, sie verstört wirkte, und ahnen wir nicht, dass dort etwas Schreckliches passiert sein könnte? Und wollten wir behaupten, wir kennen keinen einzigen Macho-Mann unter muslimischen Männern? Wie oft sind wir in Anwesenheit eines solchen Macho-Mannes aufgestanden, haben der bedienenden Frau das Tablett aus der Hand genommen und haben die Frauen bedient und beim Abräumen des Tisches geholfen?

Und wie oft haben wir einen Muslim, der von mehreren Frauen träumt, darauf hingewiesen, dass unser islamisches Ideal ein anderes ist? Wie oft haben wir Gewalt gegen Kinder in muslimischen Familien verhindert?
Und wollten wir behaupten, alle unsere Töchter tragen das Kopftuch aus Überzeugung? Wie oft haben wir die überzeugenden Argumente liebevoll erläutert, damit die kopftuchtragende Frau voller Dankbarkeit und Liebe diese Kleidungsstück trägt; nicht nur an der Universität sondern auch in der Hauptschule?

Und wie ist es mit den Lesegewohnheiten? Wie oft haben wir unseren stets in Kaffees herumhockenden Bekannten dazu animiert, einmal ein Buch aufzuschlagen, wenn doch das erste Gebot des Islam „lies“ ist? Und wie viele Bücher lesen wir selbst?

Und vor allem: Wie ist es mit unserem rituellen Gebet? Verrichten wir es jeden Tag fünf Mal in der Ehrfurcht vor Gott, der uns persönlich einlädt und uns darauf hingewiesen hat, dass es die wichtigste Tat eines Muslims ist? Verstehen wir das Gebet als Himmelfahrt und als größte Gnade unserer Dienerschaft? Geben wir dem Gebet in unserer Zeitplanung und vor allem in unseren Herzen den wichtigsten Platz?

Niemand von uns trägt die Verantwortung dafür, dass ein Bush, ein Obama oder ein Netanjahu die Welt mit Krieg überzieht, Israel seine Besatzung tagtäglich ausweitet und jetzt auch wohl „offiziell“ deutsche Soldaten ins Kampfgeschehen gegen Muslime in Afrika eingreifen sollen! Und Gott braucht uns dafür nicht, um das zu verhindern. Wenn wir aber unserer Verantwortung als Mensch gerecht werden wollen, und unsere Stimme auch gegen jenes Unrecht erheben wollen, müssen wir erst einmal unsere eigenen Hausaufgaben machen! Wir müssen zunächst das erfüllen, wozu wir verpflichtet sind und die unmittelbare Verantwortung tragen, und dazu gehört u.a. das Gebet; nicht weil Allah das benötigt, sondern weil wir selbst es benötigen; mehr noch als die Nahrung und das Wasser für den Körper. Nur der Muslim, der sich selbst erzogen hat, kann konstruktiv in der Welt wirken.

Und damit sind wir wieder zurück bei den Toiletten. Es gibt in Deutschland offensichtlich hinreichend Muslime, die sich für „höhere“ Aufgaben berufen fühlen. Es gibt hinreichend viele, die sich nach dem Dialog mit Christen sehnen, und tagtäglich dafür Ohrfeigen von Christenfunktionären hinnehmen müssen. Es gibt viele Muslime, die sich geradezu aufdrängen, unbedingt mit dem Innenminister reden zu dürfen, um dann mitzuerleben, wie Konvertiten zum Islam öffentlich gedemütigt werden (ausdrücklich sei an dieser Stelle erwähnt, dass hier nicht die Vertreter der großen muslimischen Verbände gemeint sind, die eine wertvolle Arbeit versuchen zu leisten, trotz der Schwierigkeiten, die man ihnen bereitet)! Es gibt viele Jugendliche, die glauben irgendwen oder irgendwas handgreiflich „verteidigen“ zu wollen, obwohl sie noch nicht einmal ihre eigene Seele verteidigen können, weil sie die Faszination des Gebetes genau so wenig kennen, wie die Liebe zur Wahrheit.

Eigentlich haben wir Muslime auch in Deutschland in allen Bereichen hinreichend Personal, um mehr oder weniger alle „großen“ Aufgaben zu erfüllen. Nur die Toiletten, die will niemand so gerne putzen! Aber wir müssen lernen, dass Gottesdienst nicht das ist, was wir uns wünschen, sondern das ist, was unser Schöpfer von uns wünscht. Einen jugendlichen Muslim in Deutschland auf Irrwege zu leiten (auch auf den Irrweg von Springerstiefeln und „Urlaub“ bei Salafisten) ist nur dann möglich, wenn er seine Selbsterziehung vernachlässigt hat bzw. nie richtig gelernt hat. Ihm die Selbsterziehung zu lehren müssen wir verantworten.

In der Sitzstellung des rituellen Gebets sagt jeder Muslim, dass er bezeugt, dass Muhammad „Diener und Gesandter“ Gottes ist. Der Begriff „Diener“ kommt zuerst, da er eindeutig die höhere Stellung kennzeichnet.

Erst wenn wir wieder anfangen sowohl im eigentlichen Sinn als auch im übertragenen Sinn die eigenen Toiletten zu putzen, erst dann wird es uns beschieden sein, dass Gott uns alle mit der Gnade des Erfolgs des erquickenden Brunnens Zamzam vor unseren Füßen bereichern wird. Und dann spielt es keine Rolle, was andere über uns schreiben oder gegen uns propagieren. Aber so lange wir zusehen, wie unsere eigenen Toiletten verdrecken, kann uns die Gnade nicht erreichen, selbst wenn alle gut über uns denken und schreiben würden!

Lasst uns daher zurück zur so wichtigen Basisarbeit. Einige muslimische Vereine tun das bereits in vorbildhafter Weise, einige Familien leben das in vorbildhafter Weise vor, einige muslimische Einzelpersonen erziehen sich in vorbildhafter Weise. Lasst uns gemeinsam diese Unterstützten, damit wir lernen, unsere Toiletten zu reinigen, in den gereinigten Toiletten eine läuternde rituelle Reinigung durchzuführen und so gereinigt uns im rituellen Gebet zu vertiefen.

Und im Anschluss daran beten wir um die Befreiung dieser Welt, und das Bittgebet eines wahrhaftigen Dieners Gottes, der sich in wahrer Nächstenliebe übt, ist stärker als alle Armeen der Welt zusammen.

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Yavuz Özoguz  
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