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Von der klassischen Mardschaiyya zum Imamat

#1 von Yavuz Özoguz , 09.11.2013 16:15

Von der klassischen Mardschaiyya zum Imamat

Ein rein innerschiitisches Thema ist das Thema der Marschaiyya. Die Prinzipien und Inhalte der Diskussion über die Vorbilder der Nachahmung und die religiösen Rechtfertigungen können aber allen Muslimen helfen voranzuschreiten – so Gott will.

Ein Vorbild der Nachahmung [mardscha-ul-taqlid] ist heutzutage eine der höchsten Autoritäten der Gelehrten im schiitischen Islam. Heutzutage tragen Vorbilder der Nachahmung zumeist den Titel Groß-Ayatollah, aber das ist eher ein neueres Phänomen. Es handelt sich bei ihnen um Rechtsgelehrte [mudschtahid], deren selbständige Rechtsfindung [idschtihad] im Bereich der Zweige der Religion [furu'ad-din] maßgeblich für andere sein kann und von ihren Nachahmern [muqallid] befolgt wird. Ihre allgemeinen Rechtsurteile [fatwa] werden zuweilen in einem religiösem Regelwerk [risala] zusammengefasst und veröffentlicht, wobei allerdings heutzutage zunehmen das Internet eine Rolle spielt.

Das System der Vorbilder der Nachahmung hat es prinzipiell bereits zu Lebzeiten der Zwölf Imame gegeben, selbst wenn es damals nicht unter diesem Begriff vermerkt wurde. Die reinen und fehlerfreien Imame hatten ihre Vertreter in vielen Städten. So konnte es sein, dass ein Imam z.B. in Medina lebte und sein Vertreter in Basra. Die Entfernung von Medina nach Basra war so weit, dass es mehrere Wochen mit dem Pferd benötigte, um einen Brief zu überbringen. An wen hätten sich die Anhänger des Imams wenden können? Sie mussten sich an einen „Vertreter“ wenden, der die Qualifikation hatte, aus dem Heiligen Buch und den ihm bekannten Aussagen der Ahl-ul-Bait auch kurzfristig Probleme der Anhänger zu lösen und neue Lösungen zu entwickeln. Nicht immer konnte man warten, bis ein Antwortbrief vom befragten Imam zurück kam.

Dieses „Prinzip“ lässt sich sogar bis auf den Propheten (s.) zurückführen. Wenn er (s.) Medina verlassen musste und auch Imam Ali (a.) mit ihm war, hinterließ er (s.) in Medina einen Vertreter. Und jener Vertreter war kein Fehlerfreier. Das Prinzip wurde von allen Imamen praktiziert bis zum zwölften Imam. Als der zwölfte Imam den Auftrag hatte, sein Leben vor den mörderischen Abbasiden zu schützen, blieb ihm nichts anderes übrig, als in die Verborgenheit zu entschwinden. Aber er ist nicht gleich vollständig entrückt. Zuerst war er zumindest für vier Personen nacheinander erreichbar. Wir nennen sie "Botschafter" [sufara]. Nach dem Ableben des vierten Botschafters (329 nd.H./941 n.Chr.) zog sich Imam Mahdi (a.) in die große Verborgenheit zurück, die bis heute andauert. In der Zeit der großen Verborgenheit sollten die dafür geeigneten Gelehrten die Aufgabe übernehmen den Imam zu vertreten – möge er (a.) bald erscheinen.

Bei allen genannten Vertretern gab es Unterschiede in der Person, im Alter, in der Herkunft und in vielen anderen Aspekten auch. Auch war das intellektuelle Niveau der Beauftragten unterschiedlich, wenn auch auf sehr hohem Niveau. Aber zumindest ein Aspekt war bei allen gleich: Nie wurden zwei Vertreter gleichzeitig für den gleichen Ort benannt! Stets war es EIN Vertreter. Wir können sogar bis ins 20. Jh. n.Chr. hinein feststellen, dass die so ehrwürdige Institution der Mardschaiyya am gleichen Ort stets hintereinander erfolgt. Das war nicht weiter verwunderlich, denn der „Folge-Mardscha“ war in der Regel der beste Schüler des amtierenden Mardscha. Die Orte waren derart voneinander entfernt, dass eine „Konkurrenz-Mardschaiyya“ gar nicht bestand. Selbst wenn eine Fatwa des einen Mardscha im totalen Widerspruch zur Fatwa eines anderen Mardscha stand, hatte das kaum praktische Auswirkungen auf die Gemeinde der Muslime, weil jeder nur eine begrenzte Zahl von Anhängern in einer bestimmten Region erreicht hat.

Erst mit dem Aufkommen moderner Kommunikationstechnologien änderte sich die Lage. Nach und nach war man in der Lage die Fatwas der anderen Maradscha zu studieren. Und so geschah es, dass immer mehr Maradscha nicht nur Anhänger in ihrem Ort und erreichbarer Umgebung hatten, sondern an auch an fernen Orten. Ab Mitte des 20. Jh. gab es immer mehr Maradscha, die Anhänger an Orten hatten, an denen auch ein weiterer Mardscha wirkte. Die „Überschneidung“ von Fatwas war daher ein neues Phänomen.

Auch hier sei ein Rückblick erlaubt. „Überschneidungen“ und scheinbare Widersprüche zwischen den Auslegungen und Interpretationen gab es auch zur Zeit der Imame. Es ist durchaus dokumentiert, wie die Anhänger ein und derselben reinen Imams in Detailfragen unterschiedlicher Auffassung waren und selbst wenn nach einer Anfrage beim Imam die Antwort vorlag, immer noch Interpretationsunterschiede bestanden. Aber an einem Ort gab es nur einen autorisierten höchsten Vertreter des Imams. Jedoch geschah es durchaus, dass andere Anhänger jenen Vertreter zuweilen „korrigierten“, ohne die Autorität des obersten Vertreters zu schwächen. Nie waren früher zwei „gleichzeitig“ gleichwertige Maradscha am gleichen Ort.

Erst um die 1970er Jahre begann das „Durcheinander“ unübersehbare Ausmaße anzunehmen. Denn es gab immer mehr Maradscha, die ihre Mardschaiyya „antraten“, obwohl eine ganze Reihe von „höheren“ Maradscha noch am Leben waren und gewirkt haben. Hier wurde ein großer Unterschied zwischen zwei „Methoden“ beim Amtsantritt von Mardascha sichtbar. Die einen weigerten sich die Mardschaiyya anzutreten, so lange ein älterer und geeigneter Mardscha am Leben war und gewirkt hat. Zu dieser Gruppe gehörte z.B. Imam Chomeini. Obwohl er schon längst die Qualifikation zum Mardscha hatte, hat er sich geweigert, diese Verantwortung zu übernehmen, so lange der damals große Mardscha Ay. Borudscherdi lebte. Erst nach dessen Ableben war Imam Chomeini bereit. Auch Imam Chamene’i war schon weit mehr als ein Jahrzehnt qualifiziert zur Mardschaiyya, wie es viele große Gelehrte bestätigt haben. Aber er weigerte sich auch nur in die „Nähe“ jenes Amtes gerückt zu werden, so lange Imam Chomeini lebte. Diese Weigerung hat dazu geführt, dass einige Ignorante seine Qualifikation angezweifelt haben, als das Imamat auf seine Schultern geladen wurde. Es gibt viele solche Persönlichkeiten in unserer Zeit. Auch z.B. Ay. Muhammad Baqir Sadr war ein Mardscha, der aber nie seine Mardschaiyya antreten konnte, weil er ein glühender Anhänger Imam Chomeinis war und daher von Saddam ermordet wurde. Heute ist z.B. Sayyid Hassan Nasrullah eine derartige Persönlichkeit, der seine Befähigung nicht offen legt, denn er ist ein treuer Anhänger von Imam Chamene’i.

Eine andere Gruppe von Gelehrten hat keinen Anstoß daran genommen, dass es andere geeignete Maradscha gab und hat ihre eigene Mardschaiyya verkündet. Sie haben sich dabei nichts Negatives gedacht, war das doch die klassische Mardschaiyya. Aber in einer zunehmend vernetzten Welt sollten daraus Probleme entstehen, die man früher überhaupt nicht kannte. So kam es dazu, dass die Anhänger der selben Rechtsschule, der Schia, am gleichen Ort an drei verschiedenen Tagen (!!) den Monat Ramadan begannen und an drei verschiedenen Tagen aufhörten. Schuld daran sind unterschiedliche Interpretationen und unterschiedliche Rechtsauslegungen des Islam bezüglich Mondsichtung. So lange jene Maradscha an verschienen Orten gewohnt haben und nur die Anwohner des Ortes betroffen waren, war das kein Problemthema. Jetzt aber, da jeder an jedem Ort der Welt die Fatwas der verschiedenen Maradscha zu diesem Thema innerhalb von Stunden erfahren kann, geschieht es, dass die Gemeinschaften gespalten werden. Zuweilen geht der Riss durch eine Familie! Der eine darf nicht mehr fasten, weil Festtag ist und am Festtag das Fasten verboten ist. Der andere muss noch fasten, weil noch nicht Festtag ist und für ihn das Fasten vorgeschrieben ist. Kann das sein, dass der Islam, der reine Islam der Ahl-ul-Bait, der Islam, der für die Rückkehr des zwölften Imams betet, solch ein Chaos bewirkt und das richtig sein soll? Kann es sein, dass die Institution der Mardschaiyya dazu führt, dass wir nicht einmal mehr das Fest gemeinsam feiern können?

Hier besteht ein Problem, dass „klassische“ Maradscha – und deren Anhänger – noch nicht verinnerlicht haben. Auch die Mardschaiyya muss sich weiterentwickeln. Es sei an dieser Stelle bereits klar gestellt, dass die Abschaffung der Mardschaiyya die sicherlich falsche Lösung wäre! Wenn wir keine Maradascha hätten, dann würden wir nicht an drei verschiedenen Tagen das Fest beginnen, sondern wohl an fünf. Die heutige komplexe Welt bedarf mehr Maradscha als je zuvor. Aber es muss eine neue Art der strukturierten und vernetzten Mardschaiyya geben. Die Maradscha müssen miteinander vernetzt sein und ihre Rechtsgutachten in derart transparenter Art und Weise miteinander austauschen, dass alle sich gemeinsam weiterentwickeln können. Und vor allem müssen sie ihre Dienste den Imam der Ummah unterstellen! Jeder Befähigte kann seine Rechtsschlüsse entwickeln, aber er muss sie nicht zuerst seinen Anhängern, sondern dem Imam der Ummah zur Verfügung stellen. Bei Fragen, deren Unterschiedlichkeit keine Auswirkung auf die Einheit haben (wie z.B. Detailfragen der rituellen Waschung), kann jeder Anhänger seinen Mardscha befolgen. Aber bei Fragen, die die Einheit der Muslime betreffen, darf niemand von der Vorgabe des Imams der Ummah abweichen! Sonst wird die Einheit zerstört. Bei der Frage des Beginns des Monats Ramadan darf kein Mardscha sich vor den Imam drängeln oder den Eindruck erwecken, er könne „unabhängig“ selbst entscheiden. Das Prinzip der Einheit ist ein höheres Prinzip, das nur und nur unter einem Imam möglich ist!

Es ist von großer Bedeutung, diese Thematik gerade im Monat Muharram anzusprechen. Damals standen einige Zehntausend mit Waffen gegen den Imam und wenige Dutzend auf seiner Seite. Aber die große Masse von Hunderttausenden Muslimen hat sich herausgehalten. Keiner derjenigen, die diese Zeilen interessiert lesen, wird zu den Soldaten Yazids gehören. Aber wir dürfen auch nicht zu den Gleichgültigen gehören. Wir müssen die Zeichen der Zeit erkennen und unsere Treue zum islamischen System weiterentwickeln, selbst wenn es für viele Muslime schmerzhaft sein mag „klassische“ Wege zu verlassen.

Es ist nicht möglich in Kufa zu leben, Imam Husain (a.) zu lieben und Muslim ibn Aqil nicht treu zu folgen und mit allen Möglichkeiten zu unterstützten. Das ist unmöglich! Es ist nicht möglich im Libanon zu leben, Imam Chamene’i zu lieben und Sayyid Hassan indifferent gegenüber zu stehen. Und es ist in der heutigen Welt nicht möglich, den zwölften Imam zu lieben, aber die Vertretungspersönlichkeit des einzigen Staates, dessen Oberhaupt der zwölfte Imam ist, zu ignorieren. Wer immer als Iraker träumt, es könne eines Tages eine Islamische Republik Irak geben mit einem eigenen Imam, der kennt Imam Mahdi (a.) nicht und läuft Gefahr zu denjenigen zu gehören, die sterben, ohne ihren Imam „erkannt“ zu haben. Denn der zwölfte Imam baut seine Herrschaft nicht mit „zwei“ gleichwertigen Vertretern auf. Das widerspricht den islamischen Grundprinzipien. Wer als Türke glaubt, der Imam müsse aus der Türkei kommen, ist weit entfernt vom Imam der Zeit. Wer als Libanese glaubt, das religiöse Oberhaupt müsse aus dem Libanon kommen, der verleugnet Sayyid Hassan und verleugnet damit Imam Chamene’i. Und wer Imam Chamene’i verleugnet, der ist wie einer der Moscheebesucher in Kufa, als Muslim ibn Aqil seine Rede hielt. Nach und nach verließen immer mehr Bürger die Moschee, so dass Muslim ibn Aqil am Ende alleine war und noch nicht einmal wusste, wo er übernachten sollte. Und wer Muslim ibn Aqil nicht unterstützt, darf sich nicht wundern, dass Imam Husain (a.) nicht zu ihm kommt. Wer heute nicht Imam Chamene’i unterstützt, darf sich nicht wundern, wenn der zwölfte Imam nicht zu seinen Lebzeiten bzw. nicht zu ihm kommt!

Noch bevor ich meine Zeilen zu Ende geschrieben habe, höre ich die lauten Aufschreie mancher Glaubensbrüder, die mir wieder einmal „Übertreibung“ und „Fanatismus“ vorwerfen wollen. Es gäbe doch schließlich auch andere große Gelehrte. Sie behaupten, Imam Chamene’i zu ehren als einen der großen Gelehrten, aber eben nicht mehr. Genau das – liebe Geschwister – ist der Grund dafür, dass die schiitische Welt heute so extrem unterdrückt werden kann von den US-Salafisten. Jene Uran-Munitionen im Irak, die für so viele Missgeburten verantwortlich sind, sind das Resultat von Muslimen, die dazu geschwiegen haben, weil sie sich nicht des Imams klaren Vertreter angeschlossen haben. Jedes Massaker im Gazastreifen ist das Ergebnis von Muslimen – in diesem Fall weniger Schiiten – die selbst US-hörige Verbrecher dem Imam der Zeit vorziehen. Und jeder Schiit, der sich im Monat Muharram blutig schlägt, stellt sich mit seinen Handlungen in aller Deutlichkeit und Offenheit gegen den Imam! Was er tut ist eine unislamische Verirrung. Obwohl der Imam der Muslime es verbietet, tut er es. Wie will er das jemals rechtfertigen? Glaubt er ernsthaft, dass Imam Husain eines Tages sein Blutigschlagen höher bewerten wird als die Meinung Imam Chamene’is dazu? Welch irrsinnige Selbstüberschätzung (oder Fehleinschätzung der eigenen Vorbilder) liegt dem zugrunde? Glaubt er ernsthaft, der Gelehrte, mit dessen Rechtfertigung er das tut, wird von Imam Husain mehr geehrt werden, als Imam Chamene’i. Und wenn er das glaubt, ist er dann nicht wie das damalige Volk von Kufa?

Liebe Glaubengeschwister mit Liebe zu den Ahl-ul-Bait. Schaut doch endlich auf Kerbela! Wie war Imam Husain (a.) mit seinen Gefährten eingeschlossen? Welch ein Wahnsinn: 30.000 Soldaten gegen 100 Frauen, Kindern, alte Kranke und wenige Dutzend Kämpfer. Doch jeder Tag ist Aschura und jeder Ort ist Kerbela. Schaut doch einmal wo die US-Soldaten stationiert sind. Wer steht denn in Saudi-Arabien, im Irak, in Jordanien, in Aserbaidschan, in Afghanistan, in Pakistan, in Kuwait und anderen Golf-Staaten. Wer hat seine Atom-Waffen auf ein bestimmtes Land gerichtet? Wer hat ein einziges Land dieser Erde zur schlimmsten Gefahr erklärt? Warum erkennt man nicht, dass die damaligen Umayyaden heute die USA sind und alle, die für die USA Krieg führen (inklusive muslimische Soldaten). Und der Iran ist heute das Feld von Kerbela. Muss man hier wirklich noch darauf hinweisen, wer al-Husaini ist? Doch dieses Mal wird al-Husaini mit Allahs Erlaubnis erfolgreich in Kufa einziehen.

Wer glaubt heute einen Weg zum zwölften Imam gehen zu können ohne Imam Chamene’i, irrt sich. Aber Anhänger Imam Chamene’is zu sein bedeutet nicht, dass man mit der Zunge oder der Tastatur irgendetwas behauptet. Anhänger Imam Chamene’is zu sein bedeutet, in jeder Hinsicht anzustreben und sich anzustrengen, zu wertvollsten Mitgliedern der Gesellschaft zu werden, für Muslime und auch anständige Nichtmuslime. Und das Vorbild sind die Gefährten Imam Husains (a.). Der Imam des Friedens ist mit Dir, oh Husain!

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Vortrag von Dr. Gürhan Özoguz am Donnerstag, dem 3. Muharram (Zusammenfassung)

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