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Fehlvorstellungen über den Erlöser in einer Welt der Katastrophen

#1 von Yavuz Özoguz , 27.04.2015 09:47

Fehlvorstellungen über den Erlöser in einer Welt der Katastrophen

In allen großen Religionen gibt es die Zukunftserwartung über das Erscheinen eines Erlösers, doch was geschieht, wenn der Erlöser kommt?

Nie zuvor war die Erlösererwartung im Islam so groß wie in den letzten Jahren. Insbesondere bei Schiiten hat diese Erwartung mit der Islamischen Revolution 1979 noch einmal drastisch zugenommen und seither geradezu täglich mit den Ereignissen der Zeit. Der erwartete Erlöser heißt im Islam „Imam Mahdi“ und wird zusammen mit Jesus – der ebenfalls erscheinen wird – Gerechtigkeit auf Erden etablieren. Auch Christen haben eine Erlösererwartung. Zumindest in der Theologie erwarten sie die Rückkehr Jesu. Insofern gibt es eine gewisse Überschneidung der Erwartung, wenn sie auch im praktischen Christentum der heutigen Welt etwas in Vergessenheit geraten ist. Und auch die Juden erwarten das Erscheinen eines Heilands. Aus Sicht der Muslime haben sie ihn mit Jesus bereits „verpasst“. Aus ihrer eigenen Sicht heraus aber wird jener Heiland noch kommen. Wie dem auch sei; alle drei monotheistischen Religionen erwarten das Erscheinen eines Erlösers, und dessen Hauptaufgabe besteht darin, die Menschen vom Unrecht dieser Erde zu erlösen.

Damit geben alle drei Religionen offen zu, dass diese Welt vom Unrecht dominiert wird, so dass es eines Erlösers bedarf. Zumindest viele Christen der nördlichen Erdhalbkugel haben diesen Gedanken etwas vergessen. In der Westlichen Welt, in der eigentlich nur noch eine Art Kulturchristentum besteht, glaubt man nicht daran, dass die größten und mächtigsten Herrscher der Welt ein derart gravierendes Unrecht begehen, dass ein Erlöser kommen müsste. Schließlich sind viele selbst Eckpfeiler jenes Unrechtssystems, das in den Begriffen Imperialismus, Kapitalismus, Zionismus und weiteren ähnlichen Begriffen zusammengefasst werden kann.

In der muslimischen Welt – die insbesondere im letzten Jahrhundert extrem unter dem Herrenmenschendenken der Westlichen Welt zu leiden hatte – ist die Hoffnung auf das Erscheinen des Erlösers naturgemäß größer. Doch auch hier herrscht sehr oft eine äußerst merkwürdige Vorstellung vor. Viele Muslime glauben, dass der Erlöser kommen wird, um in einer Art Supermann-Manier alle Unterdrücker der Welt kurz und klein zu verprügeln, damit danach Friede, Freude und Eierkuchen herrsche, notfalls auch ohne Eiern für Leute, die keine Eier mögen. Manche wollen schon an der zunehmenden Zeichendichte der letzten Jahre erkennen, wann er kommt; nämlich sehr bald. Ein einfacher Blick auf die prophezeiten Zeichen verdeutlicht tatsächlich eine extreme Zunahme an Zeichen in den letzten Jahren. Aber deuten wir alle Zeichen immer richtig? So soll der Erlöser unter anderem kommen, wenn die Welt von Frauen beherrscht wird. Aha: Die USA sind noch nie von einer Frau beherrscht worden. Hillary Clinton wird wohl in einem Jahr gewählt werden. Dann kann sie maximal acht Jahre regieren, also wird der Erlöser spätestens in neun Jahren da gewesen sein!? Wer so denkt, übersieht, dass Margaret Thatcher schon lange regiert hat und von einer Frau Merkel dürfte er auch schon gehört haben. Doch lange vor diesen hat in der muslimischen Welt eine Tansu Ciller genau so regiert wie eine Benazir Bhutto (ja, Muslime waren schon immer gleichberechtigter als die westliche Welt).

Wahr ist aber: Wir waren dem Erscheinen des Erlösers noch nie so nahe wie heute. Die Hoffnungen vieler Wartenden lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Erlöser kommt und besiegt durch seine übernatürlichen Kräfte alle Bösewichte der Welt und danach geht es mir persönlich besser!

Genau hier liegt das Hauptproblem der Erwartung: Das Ich und das eigene Wohlbefinden, das gesteigert werden soll. Denn genau das wird zunächst nicht eintreten. Alle Überlieferungen zeigen genau das Gegenteil auf! An dem Tag, an dem Der Erlöser erscheint, wird eine Art Weltkrieg ausbrechen (bzw. noch heftiger werden). Viele Kräfte und Mächte der Welt werden gegen ihn Krieg führen. Der Krieg wird so grausam und unbarmherzig gegen den Erlöser und seine Anhänger geführt werden, dass enorm viele Menschen sterben werden. Der Erlöser wird in solch eine Bedrängnis geraten, dass er nur durch den Einsatz besonders opferbereiter und mutiger Anhänger gerettet werden kann. Die Folge dieser Kriege werden noch mehr Flüchtlinge, noch mehr Armut, noch mehr Seuchen, noch mehr Leid usw. sein. Das bedeutet für jeden Überlebenden, dass er Flüchtlinge aufnehmen muss vergleichbar der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik. Der wahre Erlöser-Erwartende wird seine Wohnung teilweise abtreten müssen an Flüchtlinge. Er wird sein Hab und Gut teilen müssen mit Bedürftigen. Er wird sein Auto zur Verfügung stellen müssen. Er wird kaum mehr eine Privatsphäre haben – und das einige Jahre lang! Er wird viel opfern müssen, um das Leid um ihn herum lindern zu helfen. Die Situation ist alles andere als Friede, Freude, Eierkuchen. Realität wird Krieg, Leid und Hunger sein!

Wie sieht es aus bei dieser Schilderung? Wollen wir immer noch, dass der Erlöser kommen mag? Oder sind wir ganz zufrieden mit unserem Leben und würden ungern gravierende Abstriche machen? Um mit dieser Frage etwas ehrlicher umgehen zu können, soll im Folgenden an zwei Beispielen (eines für Schiiten und eines für Katholiken) die eigene innere Einstellung in Frage gestellt werden. Andere Religionsanhänger können entsprechende Denkbeispiele im übertragenden Sinn betrachten. Für die wahren katholischen Anhänger des Papstes ist der Papst die oberste irdische Instanz und Vertreter Jesu auf Erden. Stellen sie sich vor, der Papst kommt in Bedrängnis und muss fliehen. Wollten sie, dass er bei Ihnen aufgenommen wird? Selbstverständlich sind sie kein Superreicher, der über eine Gästewohnung verfügt, sondern sie müssten ihr eigenes Schlafzimmer abtreten. Aber der Heilige Vater – wie Sie ihn nennen – will auch einmal ins Wohnzimmer kommen und auch mit ihnen essen. Sie könnten ihr bisheriges Leben sicherlich nicht mehr so weiter führen wie bisher. Viele müssten sich der Anwesenheit jener Person anpassen. Würden Sie sich freuen? Oder wäre es ihnen lieber, wenn der Papst woanders unterkommt (nicht wegen ihm sondern wegen Ihnen)? Würden sie es als größte Ehre und Gnade Gottes empfinden, dass der Papst ein Jahr lang ihre Wohnung beehrt und mit Ihnen lebt? Oder hätten Sie eher Sorge davor; einmal abgesehen von der Feindschaft, die Ihnen von all jenen droht, die die Flucht des Papstes notwendig gemacht haben.

Und die gleiche Frage könnte man z.B. jedem Anhänger Imam Chamene’is als Heiligkeit unserer Zeit stellen. Wie ist es? Wäre es die größtmögliche Ehre, wenn solch eine heilige Person ihr Haus beehren und mehrere Monate dort leben würde, selbst wenn sie sich dafür enorm einschränken müssten? Oder hätten sie es lieber, er würde nicht zu ihnen kommen?

Diese rein hypothetischen Fragen haben durchaus reale Vorbilder in der jungen Geschichte der Menschheit und zwar nicht mit schutzbedürftigen Heiligen sondern mit einfachen Menschen! Im Zweiten Weltkrieg gab es Deutsche – echte Deutsche – die ihr Leben riskiert haben, um unschuldige verfolgte Menschen in den eigenen Räumlichkeiten zu verstecken. Sie waren extrem wenige, aber es gab sie! Solche Menschen haben den Erlöser bereits erreicht. Und es spielt keine Rolle, ob der Erlöser zu ihren Lebzeiten kommt oder nicht. Denn sie gehören zu seiner Anhängerschaft. Andere hingegen, die nicht die Bereitschaft haben, sich für hilfsbedürftige Menschen einzusetzen, werden nichts davon haben, wenn der Erlöser zu ihren Lebzeiten kommt, denn sie haben ihr eigenes Herz selbst von einer möglichen Erlösung ausgeschlossen.

Die Fragen, die hier gestellt werden, gehen nicht um irgendwelche Erlöser, die möglicherweise irgendwann kommen. Vielmehr geht es um die Flüchtlinge aus Syrien, aus Afrika, aus so vielen Ländern der Welt. Wie ist es mit uns? Sind wir bereit, sie aufzunehmen? Deutschland ist ein reiches Land, und niemand muss sein Wohnzimmer mit irgendwelchen Flüchtlingen teilen. Aber sind wir bereit, unseren Stadtteil mit ihnen zu teilen, oder fühlen wir uns „überfordert“? In Deutschland gibt es neben den in den Medien lautstark auftretenden Fremdenhassern auch viele Freiwillige, die sich für die Flüchtlinge in ihrer Stadt engagieren. Sie setzen sich ehrenamtlich ein, damit es den Flüchtlingen besser geht. Sie organisieren auf Spendebasis Güter, um die Geflohenen zu versorgen. Sie fragen nicht danach, ob es sich um „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder sonstige Flüchtlinge handelt, sondern sie wollen Menschen helfen aus reiner Menschlichkeit? Sind Muslime im Land bei solchen Hilfsaktionen im gleichen Maß vertreten? Wenn nein, wer ist dem Erlöser näher, der Nichtmuslim, der sich für Menschen einsetzt, oder der Muslim, der es nicht tut?

In Nepal – einem der ärmsten Länder der Welt – gab es vorgestern eine schwere Naturkatastrophe. Deutsche spenden für diese Menschen, obwohl sie so fern sind, obwohl sie eine andere Religion und andere Kultur haben. Spenden Muslime in ähnlichem Maß zumindest für die Waisenkinder im Libanon, für die Massakeropfer im Gaza, für die Urangeschädigten im Irak, für die zerstörten Schulen in Afghanistan und, und, und? Wenn die Nichtmuslime einen größeren Anteil ihres eigenen Hab und Guts spenden, als es die Muslime tun, wer ist dann dem Erlöser näher?

Immer mehr Deutsche bemerken, dass die Hegemonialpolitik der USA zum Schaden aller Menschen und aller Völker führt und engagieren sich dagegen. Immer mehr Menschen in Deutschland merken, dass der Kapitalismus eine extrem unmenschliche Ideologie ist, wogegen man sich zumindest verbal in Position bringen muss. Zwar sind es noch wenige im Land, aber sie werden jeden Tag mehr. Bewegungen wie PEGIDA sind Antworten des Systems, um den berechtigten Unmut umzulenken. Doch das gelingt nicht mehr so leicht wie früher. Aber wie ist es mit den Bösewichten unter uns Muslimen? Gibt es unter Muslimen anteilig genau so viele Engagierte gegen z.B. das unmenschliche Saudi-Regime, wie es in der Westlichen Welt Widerstand gegen das Imperium gibt? Wenn nein, wer ist dann dem Erlöser näher?

Die Erlösung der Welt ist eine aus Sicht des Islam theologisch notwenige Aufgabe der Schöpfungsgeschichte. Nur dadurch wird jeder Mensch aller Zeiten erkennen, dass es möglich gewesen wäre, Gerechtigkeit auf Erden zu etablieren. Und jeder, der sich nicht dafür eingesetzt hat, wird sich selbst anklagen. Diese Selbstanklage wird einen brennenden Schmerz verursachen. Die theologisch unausweichliche Erlösung der Menschheit – wann immer sie eintreten mag – darf aber nicht zur Vorwand werden, die eigene aktuelle und individuelle wie auch kollektive Erlösung zu vernachlässigen. Denn dem Erlöser und der Erlösung nahe ist der, der die größte Gottesehrfurcht in sich etabliert. Wahre Gottesehrfurcht drückt sich durch wahren Gottesdienst aus. Und wahrer Gottesdienst ist der Dienst an hilfsbedürftigen Menschen. So kann jeder bereits heute an der Seite des Erlösers stehen, unabhängig davon, ob er schon morgen erscheint oder erst in einigen hundert Jahren.

Yavuz Özoguz  
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RE: Fehlvorstellungen über den Erlöser in einer Welt der Katastrophen

#2 von Fatima Özoguz , 27.04.2015 10:51

In dem Zusammenhang möchte ich an die vielen Syrer erinnern, die während des zionistischen Überfalls auf Libanon 2006 Libanesen Unterkunft geboten haben.


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