von
Werner Arndt
, 09.12.2020 14:15
Zitat
9. Dezember 2020
Kapitalismus nach Corona: Moral statt Demokratie
Die Bundeskanzlerin baut radikal die staatlichen Strukturen um, doch in der Öffentlichkeit inszeniert sie sich als fürsorgliche und besonnene Lenkerin durch die Krise. Das gelingt ihr, indem sie möglichst wenig über ihre Pläne spricht. Doch selbst aus den seltenen Äußerungen lässt sich einige Erkenntnis ziehen.
Natürlich respektiere sie das Demonstrationsrecht, sagte Merkel vor wenigen Tagen. Und sie wolle kein Kontrollsystem wie in China. Aber man müsse schon schauen, wie die wirtschaftliche Lage nach der Krise sei:
„Wo kommen wir da raus, wo kommt China raus, wo kommt Südkorea raus, wenn die alle immer viel besser die Masken tragen und nicht so viele Querdenker-Demos haben, sondern derweil schon wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung?”
Mit dieser Aussage suggerierte die Kanzlerin: Die Proteste verursachen wirtschaftliche Nachteile. Für „die Wirtschaft“ sei es besser, wenn sich alle an die neuen Regeln hielten. Meinungsfreiheit ist eine Bürde für die ökonomische Entwicklung. Deutschland wäre stärker und durchsetzungsfähiger auf den internationalen Märkten, wenn alle im Land an einem Strang ziehen würden. Gemeinsam, wie es die Kanzlerin seit Monaten predigt. Alle zusammen für ein großes Ziel.
In der zitierten Aussage bekennt sich die Bundeskanzlerin zwar zu demokratischen Grundprinzipien wie der Meinungsfreiheit, eröffnet jedoch mit dem „Aber“ zugleich eine Debatte über staatliche Strukturen. Dass sie hier Handlungsbedarf sieht, sprach sie deutlich vor ein paar Monaten in Davos aus. Im Januar hielt sie im Rahmen des World Economic Forum eine Rede vor den dort versammelten Regierungschefs und Konzernlenkern, in der sie große Visionen skizzierte. „Transformationen von gigantischem, historischen Ausmaß“ stünden bevor:
„Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen.“
Wie genau diese neuen Wertschöpfungsformen ihrer Meinung nach aussehen sollen, verriet sie in Davos nicht, aber zumindest, dass „dafür die staatlichen Rahmenvoraussetzungen geschaffen werden“ müssen. Der Gründer des World Economic Forum Klaus Schwab hat in dieser Hinsicht konkretere Pläne, die er in seinem „Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World“ Konzept dargestellt hat. Dieser „Riesentransformation“ steht die Bundeskanzlerin sehr offen gegenüber. Das sei „sicherlich ein Motto, über das es sich zu diskutieren lohnt.“
Das große Schweigen
Mit wem auch immer die Bundeskanzlerin darüber diskutiert – die von ihr Regierten sind es offenbar nicht. Die Pläne des Weltwirtschaftsforums werden von der deutschen Bundesregierung nicht thematisiert. Es gibt keine Veranstaltung dazu, keine Regierungserklärung, keine Charta und keinen Podcast. Die Bundeskanzlerin vermeidet jede Verbindung ihrer aktuellen Politik mit den globalen Plänen.
Ihre jetzige Regierungspolitik begründet sie ausschließlich mit Zahlen zu den positiv ausgefallenen Tests. Die Kanzlerin bestreitet lange Pressekonferenzen mit Ausführungen über konstruierte Inzidenzwerte, aber wer sich fragt, wohin diese radikale und selbstzerstörerische Politik denn führen solle, wird auf den Pressekonferenzen nicht schlau. Der weiteste Horizont ist der Moment, in dem alle Bundesbürger geimpft sind. Darüber hinausgehende Perspektiven über eine „Welt nach Corona“ werden nicht in die Debatte gebracht.
Staatliche Transformationen laufen längst
Das steht in großem Kontrast zu der Tragweite der Maßnahmenpolitik dieses Jahres. Denn mit den vielen Grundrechtseinschränkungen, der verengten Debatte und der bislang unbekannten Wirtschaftspolitik des Lockdown hat die Regierung bereits große staatliche Transformationen eingeleitet. Diese betreffen nicht weniger als zwei grundlegende Pfeiler der bundesrepublikanischen Verfasstheit: Das Demokratieverständnis und das Wirtschaftsmodell.
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