"Vermutlich waren sich Jurist*innen noch nie so einig wie in diesem Fall."
Zitat
Offener Brief zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Deutscher Bundestag Drucksache 19/23944) - von Rechtsanwältin Jessica Hamed
16. November 2020
Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestags, sehr geehrte Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten,
mein Name ist Jessica Hamed, ich bin Rechtsanwältin und Hochschuldozentin.
Mit diesem offenen Brief wende ich mich im Hinblick auf die bevorstehende Abstimmung im Bundestag und Bundesrat über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Deutscher Bundestag Drucksache 19/23944) an Sie.
Die Pandemie stellt die gesamte Gesellschaft vor großen Herausforderungen, die nach meinem Dafürhalten nur gemeinschaftlich gelöst werden können. Aus diesem Grund bitte ich Sie, bei der Entscheidung im Bundestag und dem Bundesrat am Mittwoch, den 18.11.2020 gegen die Einführung des § 28a IfSG (Deutscher Bundestag Drucksache 19/23944) zu stimmen.
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2.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen bekannt ist, dass die Stellungnahmen der Einzelsachverständigen zu § 28a IfSG vernichtend ausgefallen sind. Ein Zitat aus der Stellungnahme der Einzelsachverständigen Dr. Andrea Kießling (Ruhr-Universität Bochum) möchte ich besonders hervorheben:
"Der geplante § 28a IfSG genügt den Vorgaben von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz nicht. Die Vorschrift lässt keinerlei Abwägung der grundrechtlich betroffenen Interessen erkennen, sondern will offenbar einseitig das bisherige Vorgehen während der Corona-Epidemie legitimieren. In dieser Form werden die Gerichte die Vorschrift höchstwahrscheinlich nicht als Rechtsgrundlage für die Corona-Schutzmaßnahmen akzeptieren."
https://www.bundestag.de/resource/blob/8...evSchG-data.pdf
Seitens Legal Tribune Online wurde die beispielose Kritik der Sachverständigen gut zusammengefasst:
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h...undestag/?r=rss
Und auch auf der Homepage des Deutschen Bundestags ist zu lesen: "Experten krisitieren Neufassung des Infektionsschutzgesetzes"
https://www.bundestag.de/…
Jede*r der im Bundestag gehörten renommierten Rechtsexpert*innen hat erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzesvorhabens geäußert und von der Verabschiedung in dieser Form abgeraten. Vermutlich waren sich Jurist*innen noch nie so einig wie in diesem Fall.
Prof. Dr. Anika Klafki (Universität Jena) brachte es gut auf den Punkt:
"Es besteht aber kein Grund, nun in einem überhasteten Schnellschuss eine in vielerlei Hinsicht defizitäre Norm zu verabschieden, die mehr Schaden als Nutzen bringen könnte."
https://www.bundestag.de/resource/blob/8...evSchG-data.pdf
Wer ein Gesetz verabschiedet, obwohl er*sie weiß – oder es zumindest billigend in Kauf nimmt –, dass es verfassungswidrig ist, ist kein*e Demokrat*in.
Das gilt umso mehr in diesem Fall, in dem mit diesem Gesetz so gut wie alle Grundrechte suspendiert werden können. Es hat eine derart weitreichende Wirkung, dass selbst kleinere Bedenken ausreichen müssten, dagegen zu stimmen.
Hier hingegen sind es, wie Sie alle wissen, keine nur kleineren Bedenken.
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn Sie dieser Gesetzesänderung zustimmen, dann haben Sie sich von rechtsstaatlichen Grundprinzipien verabschiedet und würden mein Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie in einer so tiefgehenden Krise wie der aktuellen zutiefst erschüttern.
Der Entwurf genügt evident nicht dem Bestimmtheitsgrundsatz und das Anknüpfen einzig an einen Inzidenzwert entbehrt jeder Logik.
Zu letzterem wurde ebenfalls ein Experte, Prof. Dr. Matthias Schrappe, im Ausschuss für Gesundheit am 28.10.2020 gehört. Er kam zu dem Ergebnis, dass sich mit den Testergebnissen kein aussagekräftiger Grenzwert darstellen lasse und es daher nicht möglich sei, politische Entscheidungen hiermit zu begründen:
https://www.bundestag.de/resource/blob/8...ategie-data.pdf
Es dürfte darüber hinaus nachvollziehbar sein, dass der im Frühjahr 2020 festgelegte Inzidenzwert, der einzig auf absolute Zahlen abstellt, neben den allgemeinen Kritikpunkten (vgl. Ausführungen von Schrappe), auch deshalb keine sinnvolle Zahl ist, da weder die Teststrategie im Frühjahr mit der heutigen vergleichbar ist, noch die Anzahl der durchgeführten Tests. Ferner sollten auch die positiven Tests und die Anzahl derjenigen, die mit oder an dem neuartigen Coronavirus verstorben sind, jeweils ins Verhältnis gesetzt werden. Aus dieser Gegenüberstellung ergäbe sich dann der Faktor, um den die aktuell angenommenen Grenzwerte (35 und 50 positive Fälle je 100.000 Einwohner*innen) sinnvollerweise ins Verhältnis zu setzen wären. Ohne dieses Korrelativ ist ein Grenzwert nutzlos.
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3.
Es gibt, meine sehr geehrten Damen und Herren Bundestagsabgeordnete und Ministerpräsident*innen, keinen einzigen guten Grund, dieses Gesetz zu verabschieden.
Schließlich ist es unzweifelhaft möglich, ein verfassungsmäßiges Gesetz zu dieser Thematik zu schaffen. Hierfür standen viele Monate zur Verfügung. Ich habe kein Verständnis dafür, dass nunmehr ein Gesetz in einem solchen Tempo "durchgedrückt" werden soll. ...
Ein sinnvoller Vorschlag wäre es, dass jede Coronaschutzverordnung mit einem Parlamentsvorbehalt versehen wird. Dieser könnte so ausgestaltet werden, dass die jeweilige Landesregierung zwar eine Verordnung rasch erlassen kann, dass diese aber innerhalb von beispielsweise 5 bis 7 Tage nach Erlass sowie alle weitere 10 bis 14 Tage vom Landesparlament bestätigt werden muss, andernfalls tritt sie wieder außer Kraft.
Das würde eine öffentlich nachvollziehbare Debatte ermöglichen und den Landesregierungen ein hohes Maß an Flexibilität bei der Gestaltung der Maßnahmen einräumen. Gleichzeitig wären die Regierenden so auch angehalten, ihre Erwägungsprozesse nachvollziehbar darzulegen.
Der damit einhergehende "Begründungszwang" filtert mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Vorschläge heraus, die offensichtlich von vornherein zur Infektionseindämmung ungeeignet sind. Damit birgt er auch die Chance, dass Maßnahmen vermehrt unter wissenschaftlichen Aspekten überprüft werden.
Ein derartiger "Begründungszwang" führt auch zur Sicherstellung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. In der Vergangenheit stellte sich schließlich die fehlende Begründung als ein weiteres wesentliches rechtliches Problem der Coronaschutzverordnungen dar.
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Übernehmen Sie Verantwortung. Lehnen Sie diesen Gesetzesvorschlag ab und erarbeiten Sie unter Einbeziehung von Rechtsexpert*innen einen neuen.
https://www.ckb-anwaelte.de/offener-brie...er-tragweite-2/